Gedenkbuch 2008

Emmy Lippmann geborene Meyer

Von Harald Mühlhaus, Puchheim

Meine Großmutter, Emmy Lippmann, geborene Meyer, wurde als Tochter von Feodor Meyer und Jeanette, geborene Hoeber, am 08. Januar des Jahres 1881 in Aachen geboren. Leider weiß ich nicht viel über meine Großmutter, ich habe sie nur kurz gekannt und nicht häufig gesehen. Ich habe sie lediglich als Kind ein paar Mal in Aachen in ihrem Haus in der Zollernstraße 17 besucht.

Ihr Vater, Feodor Meyer, wurde 1839 in Warendorf geboren: er war bei der Geburt seiner Tochter 42 Jahre alt und starb am 28. Januar 1901, also kurz nach Emmys zwanzigstem Geburtstag, in Aachen. Emmys Mutter, Jeanette, wurde am 14. Juni 1845 in Mannheim geboren und starb elf Jahre nach ihrem Ehemann, am 15. Juli 1911, in Aachen.

Emmy hatte vier ältere Geschwister und einen jüngeren Bruder.

Ihr ältester Bruder Paul wurde im Jahr 1868 geboren. Er wohnte später mit seiner Familie in Aachen in der Schlossstrasse 11 und war Besitzer der Tuchfabrik F&M Meyer. Mein Großonkel Paul hatte einen Sohn, Kurt, dessen Mutter im Kindbett starb. Paul Meyer war ein zweites Mal verheiratet und starb 1933 eines natürlichen Todes. Sein Sohn Kurt Meyer beging im Jahr 1938 Selbstmord. Die Tuchfabrik meines Großonkels wurde arisiert.

Emmys älteste Schwester Clara, geboren im Jahr 1869, heiratete Max Call-mann aus Köln. Sie hatte zwei Söhne, Rudolf und Hans, die die Shoah überlebten. Auch Clara und ihr Ehemann starben eines natürlichen Todes.

Der zweitälteste Bruder Willi kam 1872 in Berlin zur Welt. Er heiratete eine Belgierin. Mit ihr hatte er zwei Kinder, Klaus und Feodora. Willi wohnte in Diepenbenden und starb 1923.

Emmys Bruder Otto, geboren im Jahr 1879, war zwei Mal verheiratet. Aus der zweiten Ehe ging im Jahr 1916 die Tochter Eva-Barbara hervor. Großonkel Otto wurde ebenfalls Tuchfabrikant und starb eines natürlichen Todes.

Der jüngere Bruder von Emmy war Hans. Er wurde 1883 geboren und war verheiratet.

Meine Großmutter Emmy Meyer heiratete Otto Lippmann im Februar 1902. Ihr Ehemann Otto wurde am 08. November 1866 in Aachen geboren. Sein Elternhaus steht in der Wilhelmstraße in Aachen. Großvater war Alleininhaber der „Haarener Tuchfabrik“, die 1928 an die Firma Rummeny verkauft wurde.

Meine Großmutter hatte zwei Kinder: Edith, geboren im November 1902, und Gisela, geboren im November 1906. Die Familie war jüdischen Glaubens. Emmys Schwiegervater, Jacob Lippmann, war seinerzeit Synagogenvorsteher und Mitglied im Stadtrat. Er war in Aachen hoch geachtet.

Emmy und ihr Ehemann waren jedoch nicht streng gläubig. Großvater sagte, er sei Preuße, und die Familie verstand Aachen und Deutschland selbstverständlich als ihre Heimat. Er überlegte sogar, sich und seine Familie taufen zu lassen, verzichtete jedoch mit Rücksicht auf den Stand seines Vaters darauf.

Bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges führte die Familie Lippmann in Aachen ein „großes Haus.“ Großvater hatte das Haus in der Zollernstraße 17 für seine Familie erworben. Der gesellschaftliche Verkehr spielte sich allerdings überwiegend in der Familie ab. Den Erzählungen meiner Großmutter nach hielt die größtenteils katholische Bevölkerung Aachens zu Juden eine gewisse Distanz.

Emmy Lippmanns Ehemann Otto verstarb im Mai des Jahres 1930, und meine Großmutter lebte nach seinem Tod ruhig und zurückgezogen, sofern die Nazis ihr das erlaubten. Die Schikanen sind bekannt: kein Telefon, kein Radio, keine Theater- und Konzertbesuche und so weiter.

Emmys Tochter Edith, meine Mutter, die in Aachen aufgewachsen ist, heiratete Reinhold Mühlhaus, meinen nicht-jüdischen Vater. Die Ehe war nicht glücklich und wurde im Jahr 1930 geschieden. Mit ihrem zweiten Mann, der auch nicht jüdisch war, was sie schützte, lebte sie in München. Ich lebte mit meinem Vater in Dresden. Mutters zweiter Ehemann verstarb jedoch im Jahr 1942. Damit ging dann auch für sie die Schikane los. Sie wurde zur Zwangsarbeit herangezogen und bekam im Januar 1944 ihren Deportationsbefehl. Darin stand, dass sie von nun ab das Haus nicht mehr zu verlassen hatte. Wir überlegten, was zu tun sei, und sie verschwand bei Nacht und Nebel nach Aachen, wo sie sich ja bestens auskannte und von wo aus sie über die „Grüne Grenze“ nach Belgien zu ihrer Schwester floh. Dort erhielt sie mit Hilfe ihrer Schwester falsche Papiere. Meine Mutter verstarb im Jahr 1993.

Emmys zweite Tochter Gisela heiratete ihren Großcousin mit Namen Wilhelm Hoeber und hatte mit ihm eine Tochter. Onkel Wilhelm beging im Jahr 1935 Selbstmord, und seit dieser Zeit lebte meine verwitwete Tante mit ihrer Tochter Ursula bei Großmutter im Haus in der Zollernstraße. Tante Gisela konnte legal nach Belgien auswandern und bekam dort durch eine arrangierte Heirat die belgische Staatsangehörigkeit. Tante Gisela starb am 15. September 2000 in Brüssel.

Tante Giselas Tochter, Emmys Enkeltochter Ursula, die lange Kinderjahre bei der Großmutter verbrachte, hat Emmy Lippmann immer als gütige und liebevolle Oma geschildert. Sie selber ist im Jahr 2004 verstorben.

Ich erinnere mich daran, dass Großmutter regelmäßig Blumen in einem Geschäft, das es sicher schon lange nicht mehr gibt und dessen Inhaber Geduldig hieß, kaufte. Daran erinnere ich mich auch nach 75 Jahren, da mich als Kind der etwas seltene Name immer amüsiert hat.

Emmy Lippmann hat wohl damals den Ernst der Situation nicht erkannt oder verdrängt. Eine im Jahr 1939 bereits gut organisierte Flucht, versteckt in einem Möbelwagen, zu ihrer legal nach Belgien ausgewanderten Tochter Gisela hat sie abgelehnt. In Polen gäbe es doch sicher auch anständige und nette Menschen, und sie hätte noch nie jemandem etwas zu leide getan, pflegte sie zu ihren Töchtern sagen. Was soll man dazu sagen, wenn man das grausige Ende kennt?

Emmy Lippmann wurde zu Anfang des Jahres 1942 gezwungen, aus ihrem Haus Zollernstraße 17 aus- und in ein sogenanntes „Judenhaus“, das jüdische Altersheim, einzuziehen. Ihr Haus wurde zwangsverkauft, der Erlös kam auf ein „Sperrkonto“. Aus ihrem Zwangsquartier wurde sie kurze Zeit später in das Sammellager Izbica bei Lublin/Polen gebracht und konnte von dort eine Postkarte an ihre Tochter nach Belgien schreiben. Unsere Familie hat nach Erhalt dieser Karte, datiert auf den 22. April 1942, nie wieder etwas von Frau Emmy Lippmann gehört und sie nach dem Krieg für tot erklären lassen.

Das Schicksal der Deportierten nach Izbica ist inzwischen bekannt; sie wurden in eines der Vernichtungslager gebracht und dort ermordet.

Im Hausbuch des Israelitischen Altersheims in der damaligen Horst-Wessel-Straße 87, heute Kalverbenden, ist hinter Emmy Lippmanns Namen vermerkt, dass sie am 03. April 1942 unbekannt ausgewandert sei.