Mali Blumenthal geborene Ebstein
Von Volkmar Felsch und Corinna Broeckmann, Aachen
Ihre Eltern, der Medizinprofessor Wilhelm Ebstein und seine Frau Elfriede geborene Nicolaier, stammten aus Niederschlesien und hatten bis zum Herbst 1874 in Breslau gelebt, aber dann war ihr Vater einem Ruf an die Universität Göttingen gefolgt, wo die Familie endgültig sesshaft wurde und wo Mali Ebstein zusammen mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Erich aufwuchs.
Am 01. Mai 1908 verlobte sie sich mit dem Aachener Mathematikprofessor Otto Blumenthal. Er stammte aus Frankfurt am Main, hatte aber in Göttingen studiert, und dort hatten sie sich wohl kennen gelernt. Zu dieser Zeit gehörte sie noch der jüdischen Glaubensgemeinschaft an. Da Otto Blumenthal jedoch schon zu Anfang seines Studiums zum Protestantismus übergetreten war, ließ sie sich am 05. Juli 1908 ebenfalls taufen, bevor sie am 12. August 1908 heirateten. Aus ihrer Ehe gingen zwei Kinder hervor, die Tochter Margrete, geboren 1911, und der Sohn Ernst, geboren 1914.
In Aachen lebte die Familie in verschiedenen Häusern in der Rütscherstraße, in der Nähe des Lousbergs, zur Miete. 1933 gelang es ihr, den lange gehegten Traum vom eigenen Haus zu verwirklichen und in die Limburger Straße (die damals Beselerstraße hieß) umzuziehen.
Zu dieser Zeit trafen sie die ersten Auswirkungen der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Dass ihr Mann schon im April 1933 von seinem Lehramt suspendiert und vorübergehend in Haft genommen wurde, erfuhr Mali Blumenthal erst nachträglich, weil sie sich zu dieser Zeit gerade in einer Kur befand, um eine Lungentuberkulose auszuheilen. Während sie dafür sorgten, dass ihre Kinder rechtzeitig nach England emigrierten, Ernst schon 1933 und Margrete 1936, blieben Mali und Otto Blumenthal zunächst in Aachen. Erst nach der Reichspogromnacht im November 1938 wurde ihnen klar, dass auch sie Deutschland verlassen mussten. Am 13. Juli 1939 emigrierte Mali Blumenthal zusammen mit ihrem Mann in die Niederlande.
Ihr größter Wunsch war es, möglichst bald ihre Kinder wieder zu sehen. Es gelang ihnen tatsächlich, ein Visum für eine Besuchsreise nach England zu erhalten. Am 20. August 1939 sah Mali ihre Tochter Margrete wieder, als sie abends in der Londoner Liverpoolstreet ankamen, und am nächsten Tag in Manchester ihren Sohn Ernst. Ihr Besuch in England, der wohl für mindestens zwei Wochen geplant war, wurde allerdings mehr und mehr von den weltpolitischen Ereignissen und der drohenden Kriegsgefahr überschattet. Alle Deutschen wurden aufgefordert, England zu verlassen. Mali Blumenthal, die unbedingt in der Nähe ihrer Kinder bleiben wollte, war dafür, illegal in England zu bleiben, ihr Mann konnte sich nicht dazu überwinden. Nach zwei Tagen quälender Diskussionen setzte er sich durch. Sie brachen ihre Reise vorzeitig ab und kehrten am 26. August 1939 nach Utrecht zurück. Fünf Tage später brach der Zweite Weltkrieg aus.
Nach dem Überfall der deutschen Truppen auf die Niederlande am 10. Mai 1940 wurde den Blumenthals auch in den Niederlanden das Leben immer schwerer gemacht. Da Otto Blumenthal keine Arbeitserlaubnis hatte, lebten sie von karitativer Unterstützung. Die Auswirkungen der so genannten „Judenverordnungen“ trafen sie mit voller Wucht, und eine besondere Schikane war es, dass sie immer wieder aus ihren „Wohnungen“ (die meist nur aus einem Zimmer bestanden) hinausgeworfen und zu neuer Wohnungssuche gezwungen wurden.
Während es ihrem Mann gelang, zeitweise der Wirklichkeit zu entfliehen, indem er sich intensiv mit mathematischen Problemen beschäftigte, hatte Mali Blumenthal eine solche Rückzugsmöglichkeit nicht. Sie wurde immer verzweifelter.
Am 22. April 1943 wurden die Blumenthals interniert, zunächst im Konzentrationslager Vught und dann, zweieinhalb Wochen später, im Konzentrationslager Westerbork. Dort starb Mali Blumenthal am 21. Mai 1943. Die Umstände ihres Todes hat eine Bekannte aus Utrecht später in einem Brief an eine Baseler Freundin von Mali Blumenthal beschrieben. Wir zitieren hier auszugsweise:
„Darf ich Ihnen nun erzählen, was Professors, meine Mutter und ich erlebten, nachdem wir aus Utrecht in das berüchtigte holländische Konzentrationslager Vught kamen. Am 22. April 1943 erhielten die Utrechter Nichtarier Befehl, augenblicklich in das Konzentrationslager Vught zu gehen. Meine Mutter und ich gingen also zusammen mit Blumenthals nach Vught.
In Vught war es grauenvoll. Die Männer wurden sofort von ihren Frauen getrennt, wir Frauen in der so genannten Quarantänebaracke untergebracht, die Männer, durch Stacheldraht von uns getrennt, in einem anderen Teil des ausgedehnten Lagers. Man hatte uns gesagt, dass wir nicht nur jeder 250 Gulden mitnehmen durften, sondern auch ruhig unsere besten Sachen; denn man wüsste ja nicht, wie lange es dauert. Direkt nach Ankunft wurde uns alles abgenommen, Trauringe, Uhren, eventuelle Schmuckgegenstände, Weckeruhren, Briefpapier, WC-Papier, Medikamente, natürlich das Geld, die Mäntel, Schürzen, Leibwäsche, Kleidung, später auch die Rucksäcke und Koffer mit dem Wenigen, das wir noch besaßen.
Und nun kam das Furchtbarste, was Frau Blumenthal das Leben gekostet hat. Wir sollten entlaust werden, so wurde es wenigstens genannt. Wir mussten stundenlang in einer zugigen Baracke völlig nackt dastehen und dann mit über dem Kopf erhobenen Händen in diesem Zustande an den Deutschen vorbeimarschieren. Die älteste Frau in unserer Baracke war 94, sie starb noch am selben Tage, das Jüngste war ein Baby von fünf Monaten, das, wie die meisten kleinen Kinder, auch bald starb.
Frau Blumenthal klammerte sich an mich und sagte fortwährend: „Kind, Kind, das kann doch nicht wahr sein, völlig nackt.“ Ich versuchte sie und meine Mutter zu trösten und ihnen zu sagen, dass solche Menschen uns doch nicht beleidigen könnten, aber es half alles nichts. Von diesem Moment an war der Geist von Frau Blumenthal verwirrt. Sie wiederholte noch einige Male „Nein, nein“, aber sonst tat sie völlig fremd.
Am 10. Mai ging der Alterstransport von Menschen über 60 nach Westerbork, also Professors und meine Mutter. Der Rest wurde ihnen noch beim Verladen abgenommen, die Handtaschen aus der Hand gerissen. Am 20. Mai kam auch ich nach Westerbork, am 21. wollte ich natürlich sofort zu Blumenthals, treffe zufällig den Professor, der mir sagt, dass seine Frau eben gestorben ist. „Und“, und dabei lachte der Professor ganz glücklich „sie hat scheinbar an etwas aus der Jugend der Kinder oder aus ihrer eigenen Jugend gedacht, denn sie wiederholte immerzu ‚Nein, nein’“.
Ich wollte ihm die Illusion nicht rauben, aber ich wusste es besser.“
Nach ihrem Tod wurde Mali Blumenthal im Lager Westerbork eingeäschert. Die Urne mit ihrer Asche wurde nach Diemen gebracht und dort auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt.