Aachener Schicksale

Verein rekonstruiert die Lebensgeschichten jüdischer Nazi-Opfer
Von Nina Krüsmann

Das Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoah aus Aachen leistet seit zehn Jahren wichtige Arbeit zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung in der Kaiserstadt. „Eine individuelle Auseinandersetzung und daraus resultierende Biographien bieten eine angemessene Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“, finden die Vorsitzende Bettina Offergeld, Schatzmeisterin Judith Kemmann und Schriftführerin Corinna Broeckmann.

Ihre Aufgabe ist das Auffinden und Veröffentlichen der Namen ehemaliger Aachener Bürger jüdischen Glaubens, die in der Zeit zwischen Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 und der Befreiung Aachens durch die Amerikaner am 21. Oktober 1944 in Aachen gelebt haben. Ziel des Gedenkbuchs, das ausführliche Biographien und Porträts enthält, ist, dass die Namen der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nicht in Vergessenheit geraten. Dies soll mit dem Schreiben von Biographien erreicht werden.

Die Beschäftigung mit dem Lebensweg einer Person oder einer Familie hilft die abstrakte Zahl von sechs Millionen Ermordeten - die genaue Zahl der Aachener Opfer ist noch nicht – zu realisieren. „Jeder Einzelne hatte ein individuelles Schicksal. In diesen Biographien leben die Opfer weiter. Als Leser erkennt man, dass die Betroffenen Menschen wie du und ich und vor allem auch Aachener waren. Auch die Orte des Geschehens bekommen einen Namen und man erfährt, was in der eigenen Straße oder am Platz um die Ecke Entsetzliches passiert ist“, verdeutlicht Broeckmann.

Nach den bisherigen Recherchen liegen Informationen zu mehr als 1950 Personen vor, die zwischen 1933 und 1945 in Aachen gelebt haben. Berücksichtigt sind auch Personen aus deren Verwandtenkreis, damit sich familiäre Beziehungen aufschlüsseln lassen. Bei 652 Personen ließ sich bis jetzt nicht klären, wie ihr Lebensweg ausgesehen hat, ob sie im Deutschen Reich oder im Ausland überlebt haben, ob sie in der Emigration gestorben sind oder in Lagern ermordet wurden.

„Bisher haben wir mehr als 749 Opfer erfasst, die tatsächliche Zahl dürfte aber weit höher liegen“, so Offergeld. Insgesamt hat der Verein in den vergangenen Jahren rund 200 unbekannte Schicksale klären können.

Die Biographien entstehen auf verschiedenen Wegen. Entweder werden Überlebende beziehungsweise Angehörige von Mitarbeitern des Vereins interviewt, oder aber die Angehörigen verfassen selbst eine Lebensgeschichte des betreffenden Opfers. Sehr wichtig ist dem Verein auch die Zusammenarbeit mit Schulen. Bisher haben das St.-Ursula-Gymnasium, das Einhard-Gymnasium und das Gymnasium Herzogenrath Patenschaften für Biographien übernommen. Auch interessierte Aachener Bürger können solche Patenschaften übernehmen und unter fachlicher Begleitung eine Biographie rekonstruieren.

Zwei Bände mit insgesamt 55 Lebensbeschreibungen sind bisher erschienen. „Das Ganze lebt davon, dass Zeitzeugen und Angehörige berichten, was sie wissen, und damit den Opfern eine bleibende Erinnerung ermöglichen“, sagt die Vorsitzende. Für die meisten Angehörigen sei es verständlicherweise sehr schwer, sich dem Thema zu nähern und über das Geschehene zu sprechen, während andere eben dies als Erleichterung empfinden. „So haben wir viele Kontakte, auch Freundschaften, die aber letztendlich nicht zu Biographien führen“, erklärt Broeckmann.

2005 entstand die Idee, die Ergebnisse der bisherigen Recherchen festzuhalten und ein Buch mit den Namen aller bekannten Opfer herauszugeben. Enthalten sind darin die Namen, sowie biographische Kerndaten wie Geburts-, Deportations- und Todesdaten von 680 Opfern. Doch wie kommt man eigentlich dazu, einen großen Teil seiner Freizeit in ein solches Projekt zu investieren?

„Die Idee zu den Gedenkbüchern entstand 1998 gemeinsam mit einem Schulfreund. Wir hörten davon, dass es so etwas in vielen anderen deutschen Städten gibt und beschlossen, dass dies auch für Aachen sehr wichtig ist“, erinnert sich Offergeld, die im Alltag als Fachreferentin bei der Caritas beschäftigt ist. Mit Judith Kemmann, Lehrerin am St.-Ursula-Gymnasium, hatte sie über gemeinsame Bekannte schnell eine tatkräftige Mitarbeiterin gefunden.

1999 reiste Offergeld nach Israel, um überlebende Aachener und Verwandte von Opfern zu finden. 2000 schließlich gründete sie den Verein, um ihrer Arbeit einen offiziellen Rahmen zu verleihen. Corinna Broeckmann, tätig als Referentin bei Misereor, kam erst 2007 als Schriftführerin mit ins Boot. „Viele neue Kontakte und bisweilen sogar Freundschaften zu entwickeln, der Opfer auf angemessene Weise zu gedenken und die vielen positiven Reaktionen, das gibt uns ein gutes Gefühl“, beschreiben die drei Frauen ihre Motivation.

Telefonieren, per Post und E-Mail Kontakte pflegen, in alten Listen, Zeitungen und Büchern recherchieren - all das gehört zur Vereinsarbeit dazu. Im Laufe der Nachforschungen sind bisher unzählige historische Dokumente ausgewertet worden, die sich mit den Aachener Juden während der NS-Zeit befassen.

Nach der Kontaktaufnahme mit Zeitzeugen und Überlebenden sollen in Gesprächen Informationen über den Alltag der Betroffenen, deren Familiengeschichte, persönliche Erinnerungen und Erfahrungen sowie ihr Schicksal gesammelt werden. „So entsteht nach und nach ein persönliches Bild, das soweit möglich durch Fotografien ergänzt wird“, erklärt Broeckmann.

Einmal im Monat, jeweils am ersten Mittwoch, trifft sich der Verein um 20 Uhr in der Gaststätte „Exil“ im Frankenberger Viertel. „Dann besprechen wir aktuelle Themen, tauschen Informationen aus und planen zukünftige Aktivitäten“; erzählt Offergeld. Interessierte Bürger, die dem Verein bei seiner Arbeit helfen wollen, sind jederzeit willkommen. „Vor allem würden wir uns freuen, mit weiteren Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen, denn sie können uns am besten helfen, vorhandene Mosaikstückchen zusammenzufügen“, betont Broeckmann.

Ansonsten ist jede Unterstützung hilfreich, sei es nun tatkräftiges Engagement oder finanzielle Förderung. Die Präsenz bei Informationsveranstaltungen, beim Holocaust-Gedenktag und die Kooperation mit anderen Vereinen gehören ebenfalls zur Vereinsarbeit.

„Das Gedenkbuch wird seinen unabgeschlossenen Charakter noch lange behalten. Seine ständige Erweiterung und Korrektur ist unser Ziel“, betonen die Vorstandsmitglieder, die in der persönlichen Beschäftigung mit dem Thema auch einen Appell für eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen sehen.

Kontakt zum Verein „Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoah aus Aachen e.V.“ über Vorsitzende Bettina Offergeld, Oppenhoffallee 17, 52066 Aachen, info@gedenkbuchprojekt.de. Nähere Informationen zum Vorhaben auch unter www.gedenkbuchprojekt.de.

Quelle: KirchenZeitung für das Bistum Aachen – Ausgabe Aachen Stadt, 11. April 2010